30 Jahre CSD in Leipzig – Unsere Historie
Im Jahr 2022 feierten wir unser 30-jähriges Bestehen. Ein Anlass zum Feiern, aber auch einer um zurückzuschauen – auf Meilensteine, auf Erreichtes, auf die Historie der queeren Bewegung in und um Leipzig. Der Leipziger Christopher Street Day nahm seinen Anfang im Jahr 1992 mit einer kleinen, aber umso motivierteren Gruppe queerer Menschen und einer Handvoll Plakate vor der Moritzbastei. Doch wie ist es dazu gekommen und was ist seit dem passiert? Die Geschichte des CSD Leipzig ist natürlich eng verbunden mit der queeren Emanzipation in Deutschland insgesamt und mit den politischen Entwicklungen hierzulande, weshalb wir bei dieser Gelegenheit auch darauf einen Blick werfen möchten.
Wir möchten euch im Folgenden mitnehmen auf eine kleine Reise durch 30 Jahre CSD in Leipzig.
Einen detaillierten Überblick der CSDs der letzten 30 Jahre findet ihr weiter unten.
28. Juni 1969 – Die Stonewall-Aufstände
Am 28. Juni 1969 wurde im Stonewall Inn, einer Bar in der Christopher Street in New York (USA) der Grundstein für die CSD-Bewegung auf der ganzen Welt gelegt.
In den 1960er Jahren waren polizeiliche Razzien, Schikanen und Beleidigungen in und um die Christopher Street, einem Treffpunkt der damaligen queeren Szene, an der Tagesordnung. Sie waren der Auslöser für den ersten ernstzunehmenden Widerstand gegen die willkürliche Diskriminierung von queeren* Personen in der Nacht vom 27. auf den 28. Juni 1969. Es folgten Straßenschlachten und Proteste gegen die Polizei, welche über mehrere Tage andauerten. Angeführt wurden sie von BIPoC, Dragqueens, trans Personen, Schwulen, Lesben und anderen queeren Personen. Zu den Aktivist:innen der ersten Stunde gehörten Menschen wie z.B. Marsha P. Johnson, Joseph Ratanski und Sylvia Rivera. Es waren Menschen, die von der Gesellschaft verstoßen wurden und keine Safe Spaces besaßen.
In Erinnerung an diese Gewalt und den Erweckungsmoment der queeren Community fanden in den folgenden Jahren und Jahrzehnten bis heute weltweit alljährliche Demonstrationen statt, die „Christopher Street Day“ (CSD) oder auch „Pride“ genannt werden.
April 1972 – Erster CSD in Deutschland
Die Geschehnisse in New York schlugen auch international hohe Wellen. In zahlreichen Großstädten in den USA und überall auf der Welt fanden bereits in den folgenden Monaten und Jahren nach den Aufständen die ersten Gay Pride Märsche und Paraden statt.
In Münster fand drei Jahre nach den Stonewall-Aufständen die erste queere Demonstration in Deutschland statt. Ende der 70er Jahre folgten auch in Berlin und Bremen ähnliche Demonstrationen. Aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung vermummten sich viele der Teilnehmenden.
01. Januar 1981 – Einführung des Transsexuellengesetzes (TSG)
Als “Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen” wurde das sogenannte Transsexuellengesetz (TSG) in Deutschland eingeführt. Es ermöglichte erstmals eine Änderung des Vornamens für trans Menschen. Das Gesetz enthielt zahlreiche höchst diskriminierende Regelungen, welche nach und nach durch das Bundesverfassungsgericht gekippt wurden. Auch nach über 40 Jahren geht das TSG noch immer an der Lebensrealität von trans Personen vorbei und muss dringend abgeschafft und durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzt werden. Mehr dazu könnt ihr unter Punkt 10 unserer Forderungen nachlesen.
28. Juni 1992 – Erster CSD in Leipzig
Der erste CSD in Leipzig – und auch der erste CSD in den neuen Bundesländern – fand nur rund drei Jahre nach der Wende und 23 Jahre nach den Stonewall-Aufständen statt. Unter dem kämpferischen Motto „Lesben und Schwule in die Verfassung!“ trafen sich etwa 100 Personen an der Moritzbastei. Organisiert wurde die Demonstration von mutigen Menschen wie Kathrin Darlatt, Peter Thürer, Eddy Stapel, Detlev Hüttig, Dr. Cornelia Matzke und Marion Ziegler. Eingeladen waren Mitglieder des Bundestages und „BürgerInnen und nicht nur Lesben und Schwule“. Schon damals war die Stadt Leipzig bzw. die „Beauftragten für gleichgeschlechtlichen Lebensweisen der Stadt Leipzig“ Mitorganisator:innen des allerersten Leipziger CSDs.
Wir sind besonders stolz und dankbar, dass einige der damaligen Aktivist:innen sich auch heute noch aktiv für den CSD Leipzig und die Belange der queeren Community in unserer Stadt engagieren.
01. Januar 1994 – Homosexualität aus Katalog der Krankheiten gestrichen, IDAHOBIT
Im Rahmen der ICD-10 streicht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Homosexualität aus dem Katalog der psychischen Krankheiten. Die Neufassung trat ab 1994 weltweit in Kraft.
Der Beschluss der WHO wurde bereits am 17.05.1990 gefasst. Auf dieses Datum bezieht sich der ebenfalls alljährlich stattfindende Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie (IDAHOBIT).
11. Juni 1994 – Endgültige Abschaffung von §175 StGB
Mehr als 120 Jahre lang kriminalisierte der Paragraph 175 des Strafgesetzbuches Homosexualität und legitimierte die Verfolgung von homo- und bisexuellen Männern. Im Jahr 1872, zur Zeit des deutschen Kaiserreiches, erstmals eingeführt, existierte der Paragraph noch bis nach der Wiedervereinigung. 1935 wurde der Paragraph durch das NS-Regime verschärft, in dem die Beschränkung auf beischlafähnliche Handlungen gestrichen wurde und somit selbst Küsse und später auch “wolllüstige Absichten” unter Strafe gestellt wurden. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurden ca. 50.000 schwule Männer auf Grundlage des §175 verurteilt. Circa 5.000 bis 6.000 von ihnen wurden in Konzentrationslager deportiert. Dort wurden sie mit dem “rosa Winkel” gekennzeichnet und außerordentlich grausam behandelt.
Noch bis 1969 blieb der Paragraph in der BRD unverändert erhalten. In den Jahrzehnten danach erfolgten leichte Abschwächungen. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, welche den Paragraphen bereits im Jahr 1968 aufgehoben hatte, wurde §175 StGB mit der Wiedervereinigung für kurze Zeit erneut eingeführt, bis er 1994 schließlich im gesamten Bundesgebiet ersatzlos gestrichen wurde.
Es folgte ein jahrzehntelanger Kampf um die Rehabilitation der zu Unrecht verurteilten Männer. Erst am 22. Juli 2017 trat das Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitation der nach dem 8. Mai 1945 verurteilten Männer in Kraft. Für viele kam es leider zu spät.
Anlässlich des internationalen Tages des Gedenkens an die Opfer des Holocaust am 27. Januar 2023 gedachte der deutsche Bundestag erstmals ausdrücklich queeren Opfern des Nazi-Regimes. Weitere Infos hierzu könnt ihr in unserem News-Beitrag nachlesen.
1990er – Abwanderung aus der ehemaligen DDR
In den Jahren nach 1992 fand der CSD Leipzig jährlich statt (siehe unten). Infolge der Wiedervereinigung zog es jedoch immer mehr junge queere Menschen in “den Westen”. Durch mangelndes Interesse und eine schrumpfende Community in Leipzig kam die CSD-Bewegung daher Ende der 90er Jahre vorerst zum Erliegen.
Weitere Einzelheiten zur Entstehung des Leipziger CSDs und den Ereignissen der 90er Jahre könnte ihr auch in Folge 21 unseres Podcasts „Inside CSD Leipzig“ nachhören.
01. August 2001 – Lebenspartnerschaftsgesetz
Umgangssprachlich auch als “Ehe Light” oder “Homo-Ehe” bezeichnet, wurde in Deutschland im August 2001 die eingetragene Lebenspartnerschaft eingeführt. Sie ermöglichte es homosexuellen Paaren erstmals, ihrer Beziehung einen rechtlichen Rahmen zu geben. Während die Niederlande im selben Jahr bereits die Ehe für Alle einführte, wurde in Deutschland nur ein Kompromiss geschaffen, welcher gleichgeschlechtliche eingetragene Partnerschaften jedoch nicht vollständig zu heterosexuellen Ehen gleichstellte und somit weiterhin diskriminierte.
2003/2004 – Neustart in Leipzig
Nach einigen Jahren Pause startete die Leipziger CSD-Bewegung im Jahr 2004, initiiert durch den Student:innenrat (StuRa) der Universität Leipzig, erneut durch. Geboten wurde eine Veranstaltungswoche mit 22 Veranstaltungen. Zum Abschluss der CSD-Woche fand ein Straßenfest auf dem Nikolaikirchhof statt. Etwa 400 Menschen zogen demonstrierend durch die Innenstadt. Damals noch weniger bunt und zahlreich, dennoch mit wichtigen politischen Forderungen.
Bereits im Jahr zuvor setzte der StuRa mit dem Hissen der Regenbogenfahne vor dem alten Verwaltungsgebäude der Universität ein Zeichen für die Gleichberechtigung und die Sichtbarkeit der queeren Community und holte so die Aufmerksamkeit für die CSD-Bewegung „zurück“ nach Leipzig.
2006 – Erstmals Regenbogenflagge am Neuen Rathaus
Dank eines Stadtratsbeschlusses konnte 2006 zum ersten Mal die Regenbogenflagge am Neuen Rathaus gehisst werden – allerdings nicht wie die anderen Flaggen an den Fahnenmasten direkt vor dem Hauptportal, sondern ein wenig versteckt an der Seite des Gebäudes, am Übergang zum Stadthaus. Erst im Jahr 2009 durfte die Regenbogenfahne auch vor dem Haupteingang des Leipziger Verwaltungssitzes wehen.
2009 – Besucher*innenrekord und Plakatkampagne
Im Jahr 2009 nahmen am CSD Leipzig erstmals mehr als 2.000 Besucher:innen teil – doppelt so viele wie im Vorjahr. In Kooperation mit der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig wurde im Vorfeld des CSDs eine Plakatkampagne durchgeführt, welche die Betrachtenden mit ihren Vorurteilen konfrontieren sollte. Plakate mit Aufschriften wie “Würden Sie Ihrer Nachbarin die Blumen gießen? – Obwohl Sie wissen, dass sie als Junge zur Welt gekommen ist?” wurden an vielen Stellen in Leipzig verteilt und sollten provokant zum Nach- und Umdenken ermutigen.
2013 – L(i)eben und l(i)eben lassen
Queere Sichtbarkeit in der gesamten Gesellschaft ist eines der Hauptanliegen der CSD-Bewegung. Beim CSD 2013 sollte der Fokus ganz auf dem I in LGBTQIA liegen, welches für intersexuelle und intergeschlechtliche Menschen steht. Dies sollte auch in dem Motto “L(i)eben und l(i)eben lassen” widergespiegelt werden.
01. Oktober 2017 – Ehe für alle
Nach der Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaft im Jahr 2001 wurden einzelne Rechte gleichgeschlechtlicher Partnerschaften immer weiter an die “traditionelle Ehe” angepasst. Meist als Folge von Verfassungsklagen queerer Personen.
Im Juni 2017 stimmte schließlich der Deutsche Bundestag über die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Menschen ab und beschloss mit einer Mehrheit von 393 Abgeordneten das entsprechende Gesetz. Neben den Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und DIE LINKE stimmten sogar einige Abgeordnete der CDU/CSU für das Gesetz. Zum 01. Oktober 2017 trat die Öffnung der Ehe in Kraft und die ersten gleichgeschlechtlichen Paare konnten – nach langen Jahren des Kampfes für gleiche Rechte – endlich heiraten.
Völlige Gleichstellung ab es allerdings auch mit der Ehe für alle nicht. Lesbische Mütter wurden und werden auch weiterhin im Abstammungsrecht benachteiligt.
10. Oktober 2017 – Bundesverfassungsgericht urteilt über „drittes Geschlecht“
In seiner Entscheidung vom 10. Oktober 2017 stellt das höchste deutsche Gericht fest, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht als Grundrecht auch die geschlechtliche Identität derjenigen Menschen schützt, die keinem der binären Geschlechter (männlich/weiblich) zugehörig sind. Das Gericht fordert die Bundesregierung dazu auf, im Personenstandsrecht für nonbinäre Menschen die Möglichkeit einer dritten Geschlechtseintragung zu schaffen. In der Folge kann nun als Geschlecht “divers” eingetragen werden.
2019 – Erstmals mehr als 10.000 Menschen beim CSD Leipzig
50 Jahre nach den Stonewall-Aufständen war unsere Teilnehmendenanzahl erstmals fünfstellig. Unter dem Motto: “50 Jahre Stonewall – wir sind noch nicht fertig!” demonstrierten in Leipzig über 10.000 Menschen für gleiche Rechte und Sichtbarkeit von queeren Personen.
2020 – Pandemie und sachsenweite Sichtbarkeitskampagne
Anfang 2020 wurde das Leben der Menschen in Deutschland, Europa und auf der ganzen Welt auf den Kopf gestellt – das Corona-Virus verbreitete sich rasend schnell und zwang die Menschen Kontakte zu vermeiden und hierfür ihr Sozialleben und andere Aktivitäten stark einzuschränken.
Eine von den diesen Einschränkungen besonders stark betroffene Personengruppe waren queere Menschen, vor allem auf dem Land. SafeSpaces waren geschlossen, alleinstehende queere Menschen vereinsamten teilweise. Die Stadt Leipzig startete in Zusammenarbeit mit dem CSD die Kampagne “Du bist nicht allein”, um Menschen, vor allem in den ländlichen Regionen um Leipzig und in ganz Sachsen zu zeigen, dass sie nicht vergessen werden. In einigen Dörfern hing zum ersten Mal überhaupt eine Regenbogenflagge in Form eines Plakates. Neben viel Hass erreichten uns infolgedessen auch überwältigend viele, teils emotionale, Zuschriften von queeren Menschen aus allen Ecken des Freistaats.
Kontakte beschränken bedeutete aber leider auch, dass der CSD sich anpassen musste. Auch ohne traditionelle große Demonstration zum Abschluss der Veranstaltungswoche wollten wir zeigen, dass die queere Community zusammenhält. Aufgrund des dynamischen Infektionsgeschehens verzichtete der CSD Leipzig, wie viele andere CSDs auch, auf eine Demonstration. Stattdessen wurde auf dem Leipziger Marktplatz eine Ausstellung von Bildern der vergangenen Jahrzehnte mit einer kleinen Bühne für Redebeiträge organisiert. Mit Maske und Abstand versammelten sich einige Menschen und zogen individuell mit Pride-Fahnen durch die Innenstadt. Am Abend rundete ein politisches und unterhaltenes Abendprogramm via Livestream den Tag ab.
01. Januar 2022 – Transgeschlechtlichkeit als psychische Störung gestrichen
Mit der 2018 beschlossenen ICD-11 streicht die Weltgesundheitsorganisation mit Wirkung zum 01. Januar 2022 “Störungen der Geschlechtsidentität” aus dem Katalog der psychischen Krankheiten. Transgeschlechtlichkeit wird nunmehr endlich als natürliche Form von Geschlechtlichkeit anerkannt.
Und nun? Alles erreicht?
Immer wieder kommt die Frage auf, ob es denn den CSD überhaupt noch braucht. Man könne ja jetzt heiraten, Kinder adoptieren, das Geschlecht ändern, was will man denn noch? Wir können darauf nur antworten: Einiges!
Unser Forderungskatalog wächst eher, als dass er schrumpft.
Vom vollständigen Verbot von “Konversionstherapien”, über die Abschaffung des Transexuellengesetzes bis hin zur Beendigung der Diskriminierung bei der Blutspende sind auch 30 Jahre nach dem ersten CSD in Leipzig leider immer noch viele Punkte offen, welche für ein Ende der Diskriminierung queerer Menschen gelöst werden müssen. CSDs und queere Demonstrationen werden aber auch benötigt, um das Erreichte zu erhalten. Ein Blick in unsere Nachbarländer genügt, um festzustellen, wie fragil Gleichberechtigung und Menschenrechte leider sind.
Wenn rechte Bewegungen versuchen unsere Gesellschaft in längst überwundene Zeiten zurückzuversetzen, müssen wir umso lauter und sichtbarer sein!
Die Leipziger CSDs im Überblick
Drei Jahrzehnte CSD in Leipzig, das sind drei Jahrzehnte in den wir viele inhaltliche Schwerpunkte bearbeitet und uns immer wieder selbst übertroffen haben was die Beteiligung bei der CSD-Demo angeht – und das nur dank euch allen! Nachfolgend findet ihr eine chronologische Übersicht der bisherigen CSDs mit den wichtigsten Eckdaten und dem jeweiligen Programmheft.